Die göttliche Gerechtigkeit [Teil 2]

Motor der Entwicklung – Die essentielle Bewegung”

Eine der festen Eigenschaften der Geschöpfe unserer Welt ist eine Art essentieller Bewegung, durch die das Werden ermöglicht wird. Bis vor ca. 400 Jahren kannte man die essentielle Bewegung nicht. Erst später hat der große Philosoph und Gelehrte des Islam – Mulla Sadra – die geniale Entdeckung über die „essentielle Bewegung“ oder „die Bewegung des Wesens” gemacht. Um die wesentliche oder essentielle Bewegung zu verstehen, müssen wir ein wenig in uns selbst hineinhorchen und über unser eigenes Ich nachdenken. Wir werden dann sehen, dass trotz des herrschenden Entwicklungsprozesses und ständiger Veränderung der Dinge unser eigenes Ich immer dasselbe bleibt. Damals, im Kindergarten, später in der Schule und in den Jahren danach und heute, wenn wir daran denken, wir sind immer der gleiche geblieben. Ich bin immer der von damals; und werde auch immer der gleiche bleiben. Aber habe ich mich wirklich nicht geändert? Ich bin derselbe natürlich. Aber ich sehe doch heute alles mit anderen Augen. Ich bin reifer geworden. Meine Welt hat sich vergrößert. Nein, die Welt war doch immer so groß.

Ich bin größer geworden … Ich weiß heute viel mehr als damals, als ich klein war … Ich habe so viele Erfahrungen gesammelt … Als Baby konnte ich nicht einmal reden … Und heute spreche ich in 2 Sprachen … Ich habe so viel gelernt und ich lerne immer dazu … Ich nehme die Welt in mir auf und sei sie noch so groß … Ich werde immer mehr und bleibe der selbe … Es ist die essentielle Bewegung, mit der ich soweit gekommen bin. Die Vervollkommnung der Seele wird durch diese Art der Bewegung ermöglicht und vollzogen. Wenn wir unsere Gedanken weiter vertiefen, werden wir erkennen, dass die essentielle Bewegung allein nicht genügen würde, die Entwicklung unseres Wesens voran zu treiben, wäre die Schöpfung nicht so gegensätzlich geschaffen. Unterschiede und Vielfalt sind es, die Begriffe für uns begreiflich machen. Und durch die essentielle Bewegung vereint sich unsere Seele oder Wesen mit dem Begriff und nimmt mit neuem Wissen in seinen Fähigkeiten zu. Unser „Sein“ ist gleich unserem „Wissen“. Wir existieren so viel, wie wir wissen. Die Vielfalt der Schöpfung dient dazu, dass unser Wissen sich vervielfältigt. Damit erkennen wir, dass Unterschiede und Vielfalt für die Entwicklung und Vervollkommnung der Schöpfung eine zwingende Notwendigkeit sind.

Um diese Notwendigkeit zu verdeutlichen, nehmen wir einen Menschen als Beispiel, der seit der Geburt der totalen Blindheit ausgesetzt ist. Er wird nicht nur den Begriff „hell“ – was er nicht sieht – nicht verstehen können, sondern der Begriff „Dunkelheit“ bleibt für ihn auch im Dunkeln und unbegreiflich. Obwohl er die Dunkelheit stets vor sich hat und darin sein Leben verbringt. Wir dagegen können die Dunkelheit sofort sehen, indem wir unsere Augen verschließen. Das heißt: um die Dunkelheit zu sehen, braucht man eigentlich keine Augen. Warum kann der Blinde aber die Dunkelheit dennoch nicht sehen oder verstehen? Was ihm hierzu fehlt, ist das Gegenteil von Dunkelheit; nämlich das Licht. Er hat keinen Vergleich. Ohne Hungergefühle wird keiner satt. Wer niemals unglücklich war, kann auch niemals glücklich gewesen sein. Die Hässlichkeit zeigt, was schön ist. Ohne Tiefen gäbe es keine Höhen. Und so erklären sich Gegensätze gegenseitig. Bis hier haben wir in unseren Überlegungen folgende Erkenntnisse gewonnnen: 1. Im Gegensatz zum absoluten Gott kann die Schöpfung nur in relativer bzw. in möglicher Form Existenz sein. Der absolute Gott ermöglicht der Schöpfung ihre Existenz.

Wir Menschen sind mit einer Art Selbstbestimmungsrecht, einer zwingenden Entwicklung ausgesetzt, welche durch die essentielle Bewegung vollzogen wird. Wir können der Entwicklung oder Vervollständigung zwar nicht entgehen, aber die Richtung können wir durchaus bestimmen. Wir Menschen sind unsere eigenen Baumeister. Wir entscheiden mit unseren Entscheidungen im Leben über unser Schicksal im Jenseits. Wir formen uns selbst. Sure Ale Imran Vers 182: „Dies für das, was eure Hände vorausgeschickt haben, und (wisset,) dass Allah gewiss nicht ungerecht ist gegen die Diener.“ 2. Dank der Vielfalt und Unterschiedlichkeiten der Dinge können wir lernen und Begriffe verstehen und so unsere Fähigkeiten ausbauen. Damit müssen wir gestehen, dass die Schöpfung in einer bestmöglichen Form entstanden ist, so dass eine noch bessere Form und Ordnung der Schöpfung undenkbar wäre. Wir stellen fest, dass Gegensätzlichkeiten für die Entwicklung der Geschöpfe eine Notwendigkeit sind. Wir wissen, dass Unterschiede sein müssen und dazu beitragen, dass wir uns selbst, aber auch alles andere, verstehen und wahrnehmen können.

Es muss Arme und Reiche geben, damit Charaktere sich entfalten können. Wer reich ist, bekommt die Möglichkeit, mit den Armen zu teilen und so die Brüderlichkeit und Großzügigkeit zu verkörpern. Wer arm ist, kann mit seiner Bescheidenheit die Erhabenheit des Menschen über die materiellen Dinge stellen. Der Kranke weiß nun, was die Gesundheit bedeutet, und der Gesunde weiß seine Gesundheit zu schätzen. Schön und hässlich stellen sich zur Wahl. Gut und Böse zeigen die Richtung. Und wir haben die Wahl. Sure Baqara Vers 256: „Es gibt keinen Zwang im Glauben. Der richtige Weg ist nun klar erkennbar geworden gegenüber dem unrichtigen.“ So klingt alles plausibel, und man kann der Logik folgen. Aber noch ist nicht alles geklärt.

Warum bin ich ausgerechnet arm oder reich, hässlich oder schön, behindert oder gesund, weiß oder schwarz… geworden? Was hat den Regenwurm zum Regenwurm gemacht und mich zum Menschen, der Krönung der Schöpfung? Avicenna bringt es hier mit einem Satz auf den Punkt. Er sagt: „Gott hat nicht den Pfirsich zum Pfirsich gemacht, Gott hat den Pfirsich geschaffen.“ Das heißt: wir waren vorher nicht irgendetwas, aus dem Gott dann Menschen, Tiere und Pflanzen gemacht hat. Vielmehr hat Gott jedem Geschöpf eine spezielle Identität und Eigenschaft gegeben, welche als Bereicherung der Schöpfung anzusehen ist und zudem die Individualität des Geschöpfes unterstreicht. Gott hat die Schöpfung so geschaffen, dass nichts darin fehlen soll, was in irgendeiner Weise für die Entwicklung und Vervollkommnung der Geschöpfe von Nutzen wäre. Die verschiedenen Pflanzenarten, verschiedene Farben, verschiedene Tiere, unterschiedliche Menschen in Farben und Aussehen … alles, was in der Welt einen Namen trägt, hat auch einen individuellen und speziellen Sinn; weshalb es auch geschaffen worden ist. Wenn nun – in unseren Augen – der arme Regenwurm etwas anderes sein möchte als ein Regenwurm, dann müsste er zu allererst auf sich selbst verzichten; und wer möchte schon auf sich und seine Existenz verzichten? Ein Baum hat Blätter. Diese Blätter müssen wie Blätter und als Blätter geschaffen werden, um Blätter zu sein und die Funktion eines Blattes erfülllen zu können, sonst sind sie keine Blätter. Deshalb kann auch nichts etwas anderes sein als es ist. Niemand möchte seine Identität verlieren; aber was man möchte und sich wünscht, sind immer nur Sachen, durch die man seine Möglichkeiten verbessern und erweitern kann. Und das ist auf dem Weg der wahren Religion jedem Menschen, egal in welcher Position, möglich.

Man kann sich natürlich hier fragen: Wieso diejenigen, die später auf ewig im Paradies leben werden, sollen ja auch nicht von Ungerechtigkeit, Ungleichheit und sonstigen Mängeln und Sorgen geplagt sein. Es kann also doch eine Welt ohne Sorgen und Plagen geben. Hätte Gott uns denn nicht gleich im Paradies entstehen lassen können? Die Antwort ist: Ja. Er hätte das machen können. Aber dann wäre es uns allen so ergangen, wie es unseren Eltern Adam und Eva ergangen ist. Wir wären alle aus dem Paradies ausgewiesen worden. Denn wir wären charakterlich unterentwickelte Wesen, die von Lüge und Betrug, Habgier, Geiz und Feigheit, aber auch Ehrlichkeit, Treue, Mut und Großzügigkeit und vielen anderen Tugenden nichts wüssten. Unterentwickelte Individuen hätten das Paradies in Kürze zur Hölle verwandelt. Dass es so ist, erleben wir Menschen hier auf unserer Erde hautnah. Seien wir doch ehrlich. Was fehlt uns Menschen hier auf diesem Planeten? Ist es nicht so, dass wir uns selbst dieses Paradies mittlerweile zur Hölle gemacht haben? Unsere Welt ist deshalb eine Vorstufe unseres Lebens, indem die Menschen entwickelt, sortiert und gefiltert werden. Was dann passiert, lesen wir im Heiligen Koran: [36:51] Und in die Posaune soll geblasen werden, und siehe, aus den Gräbern eilen sie hervor zu ihrem Herrn. [36:52] Sie werden sprechen: „O wehe uns! wer hat uns erweckt von unserer Ruhestätte? Das ist, was der Gnadenreiche (uns) verheißen hatte, und die Gesandten sprachen doch die Wahrheit.“ [36:53] Es wird nur ein einziger Schall sein, und siehe, sie werden alle vor Uns gebracht werden. [36:54] Und an jenem Tage soll keinem etwas Unrecht geschehen; und ihr sollt nur für das belohnt werden, was ihr zu tun pflegtet. [36:55] Wahrlich, die Bewohner des Himmels sollen an jenem Tage Freude finden an einer Beschäftigung. [36:56] Sie und ihre Gefährten werden in angenehmem Schatten sein, hingelehnt auf erhöhten Sitzen. [36:57] Früchte werden sie darin haben, und sie werden haben, was immer sie begehren. [36:58] „Frieden“ – eine Botschaft von einem erbarmenden Herrn. [36:59] Und: „Scheidet euch heute (von den Gerechten), o ihr Schuldigen.

In dieser Welt ist aus gutem Grund niemandem nur Glück zuteil geworden. Jeder von uns verfügt mehr oder weniger über positive und negative Dinge. Die positiven sollen ausgebaut und die negativen zu positiven verwandelt werden. Manche haben es von Anfang an etwas besser. Dementsprechend tragen sie auch anderen gegenüber größere Verantwortung. Andere, die etwas weniger haben, haben auch weniger Verantwortung und entsprechend kommen sie leichter durch. Und zum Trost aller ist diese Periode des Lebens, in der wir uns befinden, ein Zwischenstadium und nichts Endgültiges. Das letzte Wort wird erst am Jüngsten Tag gesprochen. „In einer Welt des Werdens“ hat Gott uns die Möglichkeit gegeben, in freier Entscheidung die Wahl für unsere Zukunft zu treffen. Jeder von uns hat sich und seine Möglichkeiten als Startkapital zur Verfügung. Wir können daraus machen, was wir möchten und wofür wir uns entscheiden. Wir Menschen sind alle imstande, die höchstmögliche Stufe der Vollkommenheit zu erreichen. Ob reich oder arm, schön oder hässlich, blind oder gelähmt, gesund oder krank, jeder soll da anfangen, wo er sich befindet. Denn vor Gott sind wir Menschen alle gleich. [49:13] „O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Weib erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gerechteste ist. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.“ [2:286] „Allah verlangt von niemandem mehr, als er (zu leisten) vermag. Jedem kommt (dereinst) zugute, was er (im Erdenleben an guten Taten) begangen hat, und (jedem kommt) auf sein Schuldkonto, was er sich (an bösen Taten) geleistet hat.“

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Quelle: http://www.islamische-akademie.de/buecher/islamimdialog/islamimdialog.htm

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