Was lehrt uns die Tragödie von Karbala?

– Mehdi Razvi

O ihr, die ihr glaubt, sucht Hilfe in der Geduld und im Gebet; wahrlich Allah ist mit den Geduldigen. „Und nennt nicht diejenigen, die auf Allahs Weg getötet wurden, „“Tote““. Denn sie leben, ihr aber nehmt es nicht wahr.“ Und gewiß werden Wir euch prüfen durch etwas Angst, Hunger und Minderung an Besitz, Menschenleben und Früchten. Doch verkünde den Geduldigen eine frohe Botschaft, die, wenn sie ein Unglück trifft, sagen: „Wir gehören Allah und zu Ihm kehren wir zurück.“ Auf diese läßt ihr Herr Segnungen und Barmherzigkeit herab und diese werden rechtgeleitet sein. (2:153-157)

Das islamische Jahr beginnt mit Besinnung und Trauer. Besinnung darauf, woher wir kommen, was wir heute sind und warum und wohin wir gehen sollten. Das sind die ewigen Fragen, über die jeder überzeugte, vernunftbegabte Muslim jedes Jahr erneut nachdenkt und nachdenken muss. Denn er ist ein Reisender auf dieser Erde und nur vorübergehend hier. Er ist auf dieser Welt, um etwas zu begreifen und eine Aufgabe zu erfüllen. Ein solcher sich besinnender Muslim ist auch traurig. Nicht darüber, was die Welt macht, sondern über das, was aus seiner eigenen Umma (Gemeinschaft) geworden ist, seitdem der Prophet sie äußerlich verlassen hat und wie diese Umma eigentlich sein sollte. Mit der Trauer und Besinnung fängt das islamische Jahr an, damit die Umma sich besinnt, ihre eigene Aufgabe kennenlernt und an alle diejenigen denkt, die im Laufe der Geschichte für die Wiederbelebung dieser Umma ihre Fähigkeiten eingesetzt und Opfer gebracht haben, angefangen von den ersten Muslimen in Mekka und Medina und dann überall in der ganzen Welt. Heute noch ist diese Opferbereitschaft und Hingabe lebendig. Aber – und das ist es, was uns so traurig macht – das Ziel, für das so viel wertvolles Blut vergossen wurdem, ist noch nicht erreicht. Wohl ist die Welt in ihren Grundrissen dem Ideal nähergekommen, aber es scheint, dass noch nicht genug Farbe darin ist. Wie lange soll die Menschheit noch darunter leiden, dass die islamischen Botschaft noch ein Ruf ist und keine greifbare Realität, obwohl Prophet Muhammad durch Wort und Tat gezeigt hat, dass dieses Ideal zu verwirklichen ist? Als er die Welt verließ, hinterließ er eine intakte Gesellschaft, eine ideale Gesellschaft, wie sie auf diese Erde realisiert werden kann. So ist es auch eine Zeitlang geblieben, bis zu unserem Leidwesen dieses ideale Staat unseren Händen entglitten und in fremde Hände übergegangen ist. Ähnliche Hände halten bis heute in der islamischen Welt die Zügel der Geschichte in ihren Händen, nicht wir, die an islamische Ideale glazuben und für den Islam leben und sterben möchten. Der Islam ist nicht nut gekommen, damit wir beten. Gott weiß am besten, dass es überall Muslime gibt, die bekennen, dass es nur einen einzigen Gott gibt und das Muhammad Sein letzter Gesandter ist. Gott weiß und sieht, dass es überall Muslime gibt, die die fünf täglichen Gebete halten. Auch in solchen Gegenden wie hier, wo der Tag im Sommer zu einer unmöglichen Zeit anfängt, gibt es unzählige Muslime, die ihren Wecker entsprechend stellen und ihren Schlaf unterbrechen, damit sie rechtzeitig aufwachen und ihr Gebet sprechen. Auch hier gibt es viele, die in den Nächten zum Tahajjud aufstehen, zu einer Zeit, wo niemand außer ihrem Schöpfer sie sieht. Auch hier, wie überall, fasten Muslime. Sie zahlen Zakat, ohne das ein Finanzbeamter sie von ihnen fordert. Über eine Million Menschen aus allen Teilen der Welt gehen jedes Jahr auf Pilgerfahrt. Es gibt wohl keine andere Glaubensgemeinschaft, die ihre Gebote heute noch so praktiziert wie wir Muslime. Warum können wir uns nicht einfach freuen? Weil wir wissen, dass der Islam nicht nur dieser fünf Säulen wegen gekommen ist. Sie sind sehr wichtig und wir dürfen sie nicht vernachlässigen. Aber der Mensch ist nicht nur zum Gebet, Fasten, usw. geschaffen. Der Islam ist darüber hinaus gekommen, um hier auf dieser Erde eine gerechte soziale, wirtschaftliche, politische und ethische Ordnung zu schaffen. Dieses Glaubensbekenntnis verlangt vom Menschen, dass hier Gottes Gesetz herrschen soll. Die ethischen Werte sollen nicht nur im Privatleben verwirklicht werden, sondern auch im öffentlichen, gesellschaftlichen Leben eine Rolle spielen. Wenn die Prophetengefährten ins Feld zogen, dann verteidigten sie nicht nur ihr Recht auf Gebet und Fasten usw., das hätten die Polytheisten von Mekka akzeptiert. Was diese jedoch nicht akzeptieren konnten, war, dass Gott der höchste Gebieter sein sollte. Von Ihm sollte das ganze Leben reguliert werden, nicht nach menschlichem Gutdünken. Tauhid bedeutet nicht nur, keine Götzen aus Stein zu verehren, sondern das kein Mensch für einen anderen zum Herr werden sollte, dass nicht Pharaonen und Taghut über Menschen herrschen sollten. Das ist es, was uns traurig macht. Überall insbesondere z.B. in Palästina und Irak usw., sehen wir uns heute mit den bittersten Erfahrungen des islamischen Volkes konfrontiert. Überall leiden gläubige Muslime darunter, dass in den Regierungen pharaonische Persönlichkeiten sitzen oder das Land von Leuten beherrscht wird, die unrechtmäßig an die Macht gekommen sind und die islamische Bevölkerung nicht nur unterdrücken, sondern zu vernichten versuchen. Zum Schein behaupten sie sogar, sie wollten Aktivitäten wie Gebet und Fasten fördern. Als ob wir eine solche Förderung benötigten!

Diese Herrscher verachten unsere von unserem Schöpfer gegebene Würde. Sie halten uns für nicht fähig zu entscheiden, was gut und böse ist. Dabei hat Gott dem Menschen die Fähigkeit gegeben, mehr zu lernen und zu begreifen als die Engel. Seitdem in unserer islamischen Welt jene Politik gemacht wird, gibt es Märtyrer. Heute ist die Anzahl unendlich groß. Aber einer der Namen in dessen Namen wir alle an Märtyrer denken, ist der Name von Hussain ibn Ali. Wenn wir um ihn trauern und um die, die mit ihm waren, dann deswegen, weil er für uns zum Symbol geworden ist. Ihm ging es um die Essenz des Islam, um das Zeugnis für die islamischen Werte. Es gibt in der Geschichte kaum ein ähnliches Beispiel, wo eine so kleine Schar unter so schwierigen Umständen das Zeugnis für die Einheit Gottes und die Vollkommenheit des Islam ablegen musste. Leben ist ein Geschenk Gottes. Aber auch der Tod ist nicht einfach nur eine Prüfung; er kann auch ein Geschenk Gottes werden. Im heiligen Quran spricht Allah zum Propheten: Wir gewährten keinem Menschenwesen vor dir das ewige Leben. Als ob sie es wären, die ewig leben könnten, wenn du gestorben wärst! Jede Seele wird den Tod kosten; und Wir stellen euch mit Bösem und mit Gutem auf die Probe; und zu Uns werdet ihr zurückgebracht. (21:34-35)

Das bedeutet, dass selbst die Propheten, die Gesandten und Imam, für eine kurze Zeit auf diese Erde kommen. Unser irdisches Leben ist sehr kurz und es ist ein Geschenk Gottes, damit wir unsere verborgenen Fähigkeiten entdecken und in Seinen Dienst stellen. Die Propheten und Imame kommen mit einer bestimmten Aufgabe. Ihr Leben und unser Leben verläuft zwar äußerlich ähnlich – sie werden wie wir geboren, haben eine Kindheit, werden reif und erwachsen, werden alt und nehmen schließlich Abschied von diesem Leben. Dies ist ein Verlauf, den wir Menschen alle mit ihnen gemeinsam haben, den wir aber auch mit den Pflanzen und Tieren gemeinsam haben. Aber ähnlicherweise wie wir Menschen trotz aller Gemeinsamkeiten anders sind als Pflanzen und Tiere, so sind auch heilige Menschen etwas anders als – wie wir sagen – durchschnittliche Menschen. Diese Andersartigkeit liegt in ihren Aufgaben. Die Propheten kommen, um den Menschen Gottes Wort zu bringen, ihnen Gottes Gebote zu erklären, ihre Herzen zu reinigen und Weisheit zu lehren. Die Imame kommen, um für uns ein Vorbild zu sein. In ihrem Leben und Sterben sind sie ein Vorbild, das uns lehrt, was es bedeutet, an Gottes Offenbarung zu glauben und danach sein Leben zu entfalten. Sie lehren uns auch, was ein Mensch ist. Warum ist er geschaffen? Woher kommt er? Wohin geht er? Was ist der Sinn des Lebens? Ohne Propheten und Imame wären diese Offenbarungen nur eine Theorie, sagen wir, ein Ideal, sehr schön und sehr gut. Und es wäre sehr schön diese Ideale anzustreben. Aber es wäre keine Garantie da, dass sie auch verwirklicht werden können. Manchmal erscheint ein Ideal so hoch und so erhaben, dass wir denken, wir können es nie verwirklichen. Das Beispiel von Imam Hussein zeigt uns, dass der Mensch den Islam praktizieren kann, nicht nur soll. Er kann islamische Ziele realisieren. Auch wenn er allein ist, zu einer Minderheit gehört, hilflos und ohne Waffen ist, kann er sein Leben für Gottes Sache einsetzen. Die Größe, die Imam Hussein uns gezeigt hat, liegt darin, dass er sehr wohl Kompromisse mit den damaligen Mächtigen hätte eingehen können. Er hätte auch sehr leicht seine Position und die Liebe der Muslime zu ihm für seine Sache ausnutzen können. Wenn er nur ein Wort gesagt hätte, dann wären viele Muslime bereit gewesen, für seine Sache zu kämpfen und ihr Leben zu opfern. Aber für ihn war es nicht wichtig, einen äußerlichen Sieg zu erringen, sondern es ging darum, ein ethisches, moralisches Beispiel zu setzen.

Sein Großvater hatte gezeigt, dass man sich für die Sache einsetzen und gewinnen kann. Prophet Muhammad hat sich nicht nur für islamische Ideale eingesetzt, nicht nur den Islam gepredigt und propagiert, nicht nut für den Islam gekämpft, sondern den Islam zum Sieg geführt. Für seine physischen und spirituellen Nachkommen bestand jetzt die Aufgabe, zu zeigen, dass auch unter negativen Umständen der Mensch dem Islam treu sein soll. So hat z.B. Imam Ali uns in allen Situationen gelehrt, keine Kompromisse in Bezug auf die richtige Botschaft, die richtigen Prinzipien des Islam zu schließen. Er hat keine Kompromisse geschlossen und dem Islam gedient. Dafür hat er gelebt. Seit Prophet Muhammad ihm in Seiner Kindheit den Islam angeboten und er „Labbaik“ gesagt hat, hat er für den Islam gelebt und er ist für den Islam gestorben. Er ist nicht zu Hause gestorben, sondern in der Moschee beim Gebet getötet worden. Als die Zeit für Imam Hussein kam, war er aufgefordert, uns zu lehren, dass der Mensch auch in Einsamkeit und Hilflosigkeit für den Islam leben und ein Beispiel für andere sein kann. Er war ein Beispiel für seine Gefährten, aber er war auch ein Beispiel für diejenigen, die gegen ihn waren. Es gab unter den Gegnern einige, die dies begriffen, z.B. Hurr und seine Begleiter. In jener Nacht haben sie gefragt: „Wo ist das Recht? Bei Imam Hussein oder bei den Mächtigen? Soll man der Obrigkeit dienen, wenn diese Obrigkeit die Macht unrechtmäßigerweise an sich gerissen hat, oder soll man bereit sein, gegen eine solche Obrigkeit sein eigenes Leben zu opfern?“ Wie wir wissen, war das für den Menschen Hurr und seine Begleiter ganz klar. Sie haben sich für die richtige Sache, für den Tod mit dem Imam entschieden. Dieses Beispiel ist noch heute da. In jeder Zeit, überall in der Welt, zu jeder Stunde gibt es für uns ein Karbala. Er ist überall eine Herausforderung: auf der einen Seite die islamischen Ideale und auf der anderen Seite die Mächtigen, die ihre Politik ganz anders begründen und ganz anders führen. Hier werden zwei Wege deutlich: der Weg unserer Imame, der Weg unserer Propheten und andererseits der Weg der Mächtigen der Welt. Die Frage kommt: Welcher Weg ist richtig? Warum ist der Weg von Imam Hussein richtig? Er ist richtig, weil auf diesem Weg, der Gebieter nur Gott ist. Gott ist der, der uns das Leben schenkt. Gott ist es, der uns die Fähigkeiten gegeben hat. Gott ist es der uns Ehre und Ruhm und Segen gibt. Gott ist es, der auch Opfer von uns fordert. Niemand kann jemanden, der in Gottes Weg gefallen ist, den Sieg entreißen. Auch in seinem Tod ist er siegreich, weil er weiß, dass er ein lebendiger Kommentar dafür ist, dass ein Muslim zu Gott gehört und zu Ihm zurückkehrt. Denn die prophetische Lehre ist dies:

„Sprich: „“Wahrlich, mich hat mein Herr auf einen geraden Weg geleitet – zu dem rechten Glauben, dem Glauben Abrahams, des Aufrechten. Und er war keiner der Götzendiener.““ „Sprich: „“Mein Gebet und meine Opferung und mein Leben und mein Tod gehören Allah, dem Herrn der Welten.“ „Er hat niemanden neben Sich. Und so ist es mir geboten worden, und ich bin der Erste der Gottergebenen.“

Die wahren Muslime und Gläubigen sind diejenigen, die aus vollen Herzen und mit allen Fähigkeiten sagen können: „Ich gehöre zu Allah. Er hat mir den Weg gezeigt. Er ist mein Hadi.“ Und dann ist er rechtgeleitet. Gott ist es, der ihm auf den geraden Weg führt. Gott selbst ist der Lehrer und Wegweiser und Er lehrt eine solche Persönlichkeit den wahren islamischen Glauben, den Glauben eines wahren Hanifen, der keinem anderen dient als dem Schöpfer und Erhalter dieser Welt, der durch sein Leben, seinen Tod, seine Sprache und seine Taten Zeugnis ablegt und bezeugt, dass sein Gebet, sein Opfer, sein Leben und sein Tod nur Gott, dem Schöpfer und Erhalter dieser Welt gehören und er niemanden außer Ihm dient, dass er verwirklicht, was Gott ihm geboten hat und unter allen Umständen in Gottes Willen ergeben ist. Diese Ergebenheit, diese Hingabe, ist kein Fanatismus. Wie zuvor dargelegt wurde, hätte der Imam etwas anderes tun können. Aber er hat es nicht getan! Er war nicht in seinem Schicksal ergeben, sondern er war der Schöpfer seines Schicksals. Er hat uns Muslime gelehrt: Islam bedeutet, dass wir unsere Geschichte selbst bestimmen, in Harmonie mit der göttlichen Bestimmung, nicht gegen die göttliche Bestimmung; entsprechend Seinem Willen, nicht gegen Seinen Willen; entsprechend den universalen Werten und Idealen, die Werte und Ideale aller Religionen und aller Offenbarungen sind. Diesen zu dienen und diese zu verwirklichen sind wir alle verpflichtet und wir danken Allah, dass Er uns solche Beispiele gegeben hat wie Imam Ali, Hassan, Hussein, wie alle Nachkommen, die uns durch die Geschichte des Islam gezeigt haben, wie wir diese Ideale auch in unserer Zeit, auch in unserer Welt verwirklichen dürfen.

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Quelle: al-Fadschr Heft Nr. 41

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