Das Menschenbild im Islam
Die Geschehnisse um die Erschaffung des ersten Menschen, Adam, schildert der Quran wie folgt: Der Mensch erreichte im Laufe stofflicher und physiologischer Veränderungen ein Stadium, in dem er durch Einhauchung der göttlichen Seele zu einem neuen, besonderen Wesen geschaffen wurde. Beim Durchschreiten des allgemeinen Werdeganges der Natur wurde ihm so die himmlische Gunst einer gottgewollten sprunghaften Weiterentwicklung zuteil, ward er zum höheren Wesen und selbst die Engel hatten den Auftrag, sich vor ihm zu verbeugen, ähnlich den nichtstofflichen Kräften der Welt, die ihm gleichwohl zum Untertan wurden.
„Dann formte Er ihn und hauchte ihm von Seinem Geist ein. Und Er hat euch Gehör und Augenlicht und Herzen gegeben. Doch euer Dank ist recht gering.“ 32:9
„Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt und sie über Land und Meer getragen und sie mit guten Dingen versorgt und sie ausgezeichnet – eine Auszeichnung vor jenen vielen, die Wir erschaffen haben.“ 17:70
„Und wenn Ich ihn gebildet und Meinen Geist in ihn eingehaucht habe, dann fallt vor ihm nieder.“ Da warfen sich alle Engel nieder bis auf Iblis. Er wandte sich hochmütig ab und war ungläubig. 38:72-74
Der verbotene Baum im Paradies ist kein „Baum des Wissens“, an dessen Früchte niemand gelangen darf, sondern stellt einerseits ein Mittel dar zur Verdeutlichung der zu zügelnden menschlichen Besitzgier und seines schier endlosen Wunschbegehrens und andererseits ein Grund zur Erprobung der Willenskraft und Fähigkeit des Menschen, verzichten zu können. Was zudem seine Sünden anbetrifft, so sind auch sie Zeichen der ihm mitgegebenen Entscheidungsfreiheit.
Die Erlangung von Weisheit bleibt dem Menschen nicht nur nicht untersagt, sondern er ist zu der Gunsterweisung auserlesen, dass Gott ihn das lehrt, was er nicht weiß und die von ihm erworbenen Kenntnisse gehören zu den Dingen, welche ihm gegenüber den Engeln den Vorzug verleihen und letzteren verwehrt bleiben.
„Lehrt den Menschen, was er nicht wusste.“ 95:5
Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „Wahrlich, Ich werde auf der Erde einen Nachfolger einsetzen“, sagten sie: „Willst Du auf ihr jemanden einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut vergießt, wo wir doch Dein Lob preisen und Deine Herrlichkeit rühmen?“ Er sagte: „Wahrlich, Ich weiß, was ihr nicht wißet.“ 2:30
Sogar jene Ausweisung aus dem Paradies ist die einleitende Maßnahme zu einer Art Selbstversorgung und günstigen Gelegenheit zur Entfaltung der Begabungen und Fähigkeiten und schöpferischen Aktivität des Menschen. Sie stellt den Übergang von der vorgefertigten Existenz zur Erziehung des eigenen Ichs dar. Der „Niederfall“ erfolgt zwar aufgrund von Sünden, führt jedoch nicht zur ewigen Verbannung und Verabschiedung, sondern wird bei Bewusstwerdung und echter Reue erbarmungsvoll verziehen.
„Er sprach: „“Hinab mit euch; die einen von euch seien der anderen Feinde. Und es sei euch auf der Erde (nur) ein Aufenthaltsort und eine Versorgung auf Zeit bestimmt.“ „Er sprach: „“Auf ihr sollt ihr leben, und auf ihr sollt ihr sterben, und aus ihr werdet ihr (wieder) hervorgebracht werden.“ 7:24-25
Hierauf erwählte ihn sein Herr und wandte Sich ihm mit Erbarmen und Rechtleitung zu. „Er sprach: „“Geht von hier allesamt hinunter, der eine von euch soll des anderen Feind sein! Und wenn Meine Führung zu euch kommt, dann wird der, der Meiner Führung folgt, nicht zugrunde gehen, noch wird er Unglück erleiden.“ 20:122-123
Gott steht dem Menschen weder feindselig gegenüber, noch sieht Er in ihm einen Rivalen. Konkurrenzangst und Eifersucht liegen Ihm dem Wesen nach fern, da Er ja an allem reich und zu allem in der Lage ist, so dass, selbst wenn die ganze Menschheit sich Seinem Befehl widersetzte, Ihm dies nicht im geringsten schaden oder irgendwelche Nachteile einbringen würde. Außerdem beruhen die menschlichen Sünden nicht auf einer anderen außerhalb des göttlichen Einflussbereiches liegenden gebieterischen Macht, sondern sind auf die ebenfalls von Gott uns verliehene Willens- und Entscheidungskraft zurückzuführen.
Gott hat den Menschen als „Stellvertreter“ auf Erden eingesetzt, mit anderen Worten: ihm Regierungs- und Verfügungsgewalt anvertraut, damit er über die Welt gebietet, sie in Besitz nimmt. Und nicht nur auf dem Planet Erde, sondern auch außerhalb desselben, im Weltraum, wurden ihm als Gunsterweisung Dinge in Reichweite zur Verfügung gestellt, die er fähig ist, zu erobern und sich unterzuordnen.
Dass Gott sich fürchtet, der Mensch könne zunehmend Macht über die Natur gewinnen, ist nicht der Fall. Im Gegenteil, Er spornt ihn sogar zu dieser Machtergreifung an. Er fordert ihn auf, die Erde zu kultivieren und aus den in Gebirgen und Talebenen eingesetzten Naturkräften Nutzen zu ziehen. Die Fähigkeit, das Reich des Festlandes und der Meere erobern und verwalten zu können, ist ja überhaupt eine notwendige Vorraussetzung für die gegenüber den anderen Wesen herausragende Größe des Menschen.
Der Quran sieht in uns weder eine vollkommen vorgefertigte Kreatur, die verurteilt ist, dem zwangläufigen Ablauf eines vorherbestimmten Planes zu gehorchen, noch betrachtet er den Menschen als inhaltloses Wesen, das sich selbst überlassen bleibt und sein Dasein in düsterer Umgebung und ohne Ziel zu fristen hat. Nein! Im Gegenteil! Nach dem, was im Quran steht, ist der Mensch reichlich mit Begabung und Antriebskräften, mit sinnvollen Neigungen und Motivierungen und auch mit der Fähigkeit ausgestattet, schöpferisches Können zu erlangen. Außerdem wurde er mit einer Kraft versehen, die ihn innerlich führt und auf natürliche Weise lenkt, eine Kraft, die ihn, wenn er nicht unrein wird, zum Rechten und zur Wahrheit aufruft.
Die inneren Kräfte kommen ihm in jeder Lage zugute, ob er nun auf der Vorstufe zu neuem Wissen versucht anhand gewonnener Erfahrungen und Erkenntnisse weitere unbekannte Bereiche aufzudecken, – oder ob er zwecks verstärkter Herrschaft über die Natur neue Werkzeuge und Geräte konstruiert – oder auch sein Leistungsvermögen und Können bei der Überwindung von Hindernissen vergrößert. Gleichzeitig trägt der Mensch die Aufgabe, das ihm von Gott anvertraute Gut zu behüten, nämlich Verstand und Willen, d.h. die Kraft, mit der er Entscheidungen trifft und Einfluss auf Gegenwart und Zukunft nehmen kann. Eine Gabe, welche Verantwortung mit sich bringt, den Schlüssel zur Humanität des Menschen in sich bergend.
Diese hohe Gabe in sich aufzunehmen, dazu waren Himmel, Erde und Gebirge zu schwach. Sie waren nicht würdig genug, da ihnen die Möglichkeiten und Eignung zur Wahrung dieser Kräfte einfach fehlten. Der Mensch war jedoch in der Lage, die Fähigkeit bewussten Entscheidens und freien Wollens zu übernehmen.
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von Ayatollah Dr. Beheshti, Dr. Bahonar und Dr. Ghafur