Islam und Politik

Im folgendem handelt es sich um die Abschrift eines Vortrags, welchen Ahmad von Denffer am 21.12.1990 im Volkshaus Zürich auf Einladung des Islamischen Studentenvereins in Zürich (ISVZ) gehalten hat.

Worüber ich hier sprechen will, möchte ich am Anfang kurz umreißen, damit derjenige, der dann feststellt, dass es ihm langweilig wird, gleich den Saal verlassen kann und nicht zwischendurch nach draußen geht. Das stört. Lieber gleich gehen als in der Mitte des Vortrags!

Ich möchte etwas sagen über drei Begriffe. Der erste Begriff ist selbstverständlich der Islam und damit werde ich mich etwas ausführlicher beschäftigen, gewissermassen eine Grundlage, ein Grundverständnis darzustellen versuchen. Zweitens möchte ich ganz kurz etwas sagen über den Begriff Religion. Es geht mir um die Frage Religion und Politik aus islamischer Sicht. Und drittens werde ich kurz etwas sagen über Politik und dann in sehr kurzen Zügen eine politische Theorie des Islam entwerfen. Seltsamerweise in einem Saal, in dem, wie ich beim Hereinkommen gelesen habe vor einigen Jahrzehnten ein Herr Lenin sich über eine andere politische Idee verbreitet hat. Erstaunlich für mich, dass ich heute an dieser Stelle stehe und mich über das Thema Islam und Politik verbreiten darf. Ich werde dabei auf die vier entscheidenden Elemente eingehen, die mit der politischen Theorie des Islam zu tun haben, das heißt ich werde etwas sagen über die „Umma“, die islamische Gemeinschaft, ich werde etwas sagen über das Prinzip „Schura“, die gegenseitige Beratung, ich werde etwas sagen über den Begriff „Amîr“ oder „lmara“, die Führung, die Leitung und ich werde etwas sagen über das Konzept des Souveräns „Al-Mâlik“ oder „Al-Mulk“ „die Souveränität“. Das sind die vier wesentlichen Elemente auf die ich dann einzugehen habe.

Wie alles was ich als Muslim tue beginne ich mit „Bismillahi-rahmani-rahim“ – Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen. Wenn man unter Politik ganz allgemein die Angelegenheiten der „Polis“ versteht – von diesem Wort „Polis“, der Stadt, der Gemeinde, leitet sich ja der Begriff Politik her – und wenn man mit Aristoteles dies begreift als Erlangung des Gemeinwohls (Ziel der Politik nach Aristoteles soll sein: Erlangung des Gemeinwohls), dann kann man gar nicht anders, als deutlich und unmissverständlich sagen: „Ja, was den Islam betrifft, gibt es eine untrennbare Verknüpfung zwischen Religion und Politik“. Diese möchte ich Ihnen heute in einer groben Skizze darstellen. Dazu bedarf es zunächst aber auch der Einigung auf das Verständnis von den Begriffen, die wir hier verwenden. Ich werde deshalb diese Begriffe kurz umreißen. Ich bin sicher, dass auch für Sie dieser kurze Prolog nützlich ist und zugleich möchte ich mein Thema eingrenzen und darauf hinweisen, dass ich mich nicht speziell mit der Geschichte der politischen Ideen bei den Muslimen oder ihren historischen oder gegenwärtigen Auswirkungen in den muslimischen Ländern befasse, sondern mich auf die Grundlagen beschränken werde.

Zunächst zu den Begriffen. Der wichtigste Begriff aus meiner Sicht über den hier heute Abend zu sprechen ist, ist der Begriff „Islam“. Islam heißt auf Deutsch „Frieden machen“. Wenn man diese kurze Definition ein wenig überdenkt, ist offensichtlich, dass zwischen Islam, also dem Herstellen, dem Erlangen des Friedens, und Politik, einer Angelegenheit der Gemeinschaft, ein Zusammenhang bestehen muss. Das arabische Wort Islam leitet sich her von der Wortwurzel „salama“, zu Deutsch heil sein, ganz sein, gut sein, sicher sein und so weiter. Und das Wort ist Ihnen schon vom islamischen Friedensgruß her bekannt: „Assalamu ‚alaikum – Friede auf euch“. im Koran heißt es: „Heute habe Ich für euch eure Religion vollkommen gemacht, und Ich habe Meine Gnade an euch vollendet und Ich habe für euch den Islam – also das Frieden machen – als Religion erwählt“ (5:3). In diesem Koranvers, der auch als der Abschluss der Offenbarung an den Propheten Mohammed gilt, erscheint der Islam, das Frieden machen also, als Auftrag Gottes an den Menschen. Es ist die dem Menschen von Gott gestellte Aufgabe Frieden zu machen, Frieden stiftend, Frieden bringend zu wirken und der Mensch, der diese Aufgabe annimmt und sich um sie bemüht ist Muslim. Der Mensch, der sich um diese Aufgabe bemüht ist Muslim, das heißt, einer der Frieden macht und zwar Frieden mit Gott, mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit Gottes Schöpfung. Dies ohne Verbindung zur Politik zu tun, ist also gar nicht vorstellbar. Ebenso wie es nicht ohne Annahme des Willen Gottes durch Hingabe an Gott geschehen kann.

Das Kernstück des Islam ist der Satz: „La ilaha illallah – Kein Gott außer Allah“. Und das Wort Allah bedeutet nichts anderes als der Eine, Einzige Gott, das heißt der wahre Gott, der unvergleichliche, ewig lebendige, allwissende, allmächtige, gnädige, barmherzige Schöpfer, und Erhalter zu dem alles zurückkehrt. Dieses Prinzip der unbedingten Einheit Allahs nennt man Tauhîd. Sein Gegenstück ist der Schirk, das heißt die Beigesellung, nämlich dem Einen, Einzigen wahren Gott andere falsche Götter, Götzen zur Seite zu stellen oder sogar an seine Stelle zu setzen. Dies wäre, so der Koran, die schlimmste Sünde, die der Mensch begehen kann, und auch die einzige, von der Allah sagt, dass Er sie im Gegensatz zu allem anderen Ungehorsam Ihm gegenüber nicht verzeihen will.

In Zeiten der Unwissenheit folgte der Mensch dieser Vorstellung des Schirk anstelle des Tauhîd, aber Allah lässt ihn nicht im Stich. Seine Gesandten, Propheten von Adam über Abraham, Moses, Jesus bis zu Muhammad – Friede auf ihnen allen – rufen weg vom Irrtum und hin zur Wahrheit. Heute finden wir diesen Ruf im Worte Allahs, das nach islamischer Auffassung im Koran seine abschließende und endgültige Form, durch den Propheten Mohammed verkündet, gefunden hat. Den Koran kann man auch heute lesen, obwohl der Prophet schon lange gestorben ist, und so wird auch heute noch dem Menschen mitgeteilt, dass es nur einen Einzigen wahren Gott gibt, und dass der Mensch dessen Botschaft annehmen soll. Wo immer etwas anderes als der Eine, Einzige wahre Gott vom Menschen Anerkennung, Unterordnung, Gefolgschaft und damit Anbetung fordert, entsteht Unrecht und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Islam aber heißt, allein die einzige und letztliche Quelle jedweder Autorität anzuerkennen und alle falsche Autorität zu bestreiten.

Die Ablehnung des Tauhîd, also des Einheitsprinzips durch den Menschen hat viele Formen, aber eine der wichtigsten ist Hoffart und falscher Stolz. Das Böse kam in die Welt, so erklärt der Koran als Iblîs, der Teufel, Gott den Gehorsam verweigerte mit den bezeichnenden Worten: „Ich bin besser als er!“ (7:12) Er meinte damit Adam. Er sagt: „Ich bin besser als Adam,“ während doch der Glaube und Gehorsam gegenüber dem Einen, Einzigen Gott bedeutet, dass vor Allah alles andere Geschöpf ist, also keiner sich über irgendeinen anderen erheben kann. Aber selbst der Glaube an den Einen Gott anstelle der vielen Götter wurde oftmals zum Instrument der Unterdrückung. Diesen Missbrauch des Glaubens als eine Form des Ungehorsams hat der Koran selbst angesprochen, und auch diesem Missbrauch entgegenzutreten, ist die Aufgabe der Gemeinschaft der Muslime, die vom Koran als die beste Gemeinschaft bezeichnet wird, weil sie das Rechte gebietet und das Unrechte abwehrt (3:110).

Der Glaube des Muslims an den Einen Gott ist nicht eine bloße dogmatische Formel, sondern es handelt sich dabei um die tatsächliche Erfahrung des Menschen, die auf der Einsicht beruht, dass die Schöpfung ja existiert, weiter besteht und sich durch das Zusammenwirken all ihrer Elemente ständig in Entwicklung befindet. Die Quelle und Voraussetzung für diese Existenz, Beständigkeit und Entwicklung ist der Schöpfer, den der Muslim Allah nennt. Die Schöpfung besteht, weil Allah besteht, und der Mensch erfährt den Schöpfer zuerst und vor allem durch die Schöpfung. Dem Menschen selbst wurde innerhalb des Zusammenwirkens aller Elemente der von Gott geschaffenen Welt ein besonders wichtiger Platz gegeben. Der Koran bezeichnet das Bestehen der Schöpfung, ihren Fortbestand und ihre Entwicklung als Gehorsam gegenüber Gott. Das bedeutet, dass die Schöpfung so ist, wie sie sein soll – die Schöpfung ist so, wie sie von Gott gewollt ist – und dass sie Gott ergeben ist.

Auch der Mensch ist aufgefordert, seinen Platz in der Schöpfung einzunehmen und so zu sein, wie er sein soll, wie Gott ihn haben will – ein Muslim also – ein Mensch, der bewusst und willentlich als Mensch im wirklichen Sinne lebt. Ein Mensch, der seiner Bestimmung gemäß lebt, ist frei von jeder Art der Unterdrückung und Entfremdung und nur allein auf sein wahres Wesen hin ausgerichtet. Diese Lebensweise, die Hingabe an Gott und die Annahme Seines Willens – das meint Islam – wird den Menschen durch die gesamte Schöpfung vor Augen geführt und durch die Offenbarung Gottes dargelegt. Diese Lebensweise ist der Islam, für den Menschen von Gott gewollt und vorgesehen. Sie wird zur Religion und zur Ideologie, wo Gott eine dunkel geahnte Größe bleibt oder Gott verleugnet und verborgen wird, wo der Mensch glaubt, sich Gott verfügbar machen zu können, oder wo Gott nichts weiter als die menschliche Vorstellung von Gott ist und dieser an Gottes Platz oder Ihm zur Seite gestellt wird. Dieser menschengemachte Gott kann und wird zur Unterdrückung des Menschen benutzt. Immer dann, wenn der Glaube an Allah durch die menschliche Vorstellung von Gottes Sein oder Nichtsein verfälscht und missbraucht wird, und immer dann, wenn Glaube an Gott nicht auf der menschlichen Erfahrung von Gottes Sein beruht, muss der Muslim – der wirklich Gott Ergebene – dem Beispiel der Propheten Gottes folgen und mit all seiner Kraft aufrufen und einladen zur gottgewollten Lebensweise, dem Islam.

Islam ist die Lebensweise der Hingabe an Gott und der Annahme Seines Willens und das Wort „Islam“ lässt, wie bereits gesagt, erkennen, worum es dabei geht. Islam bedeutet Frieden machen und beim Islam als Frieden machen geht es um viererlei: Es geht um den Frieden mit Gott, es geht um den Frieden des Menschen mit sich selbst, es geht um den Frieden mit den Mitmenschen, es geht um den Frieden mit der Schöpfung. Diese vier Bereiche, und deshalb auch das Frieden machen, hängen ganz eng und unmittelbar miteinander zusammen. Eins baut auf dem anderen auf. Wenn der Mensch gerade heutzutage sich im Zustand äußerster Friedlosigkeit befindet, ja darunter sogar dermaßen leidet, dass er darauf mit seelischer Krankheit reagiert, so hängt das nicht zuletzt damit zusammen, dass er, obwohl er sich nach Frieden sehnt, ihn trotz vielfältiger Bemühungen bis hin zur langwierigen und komplizierten Psychotherapie nicht findet, weil er ihn wohl in dem einen oder anderen dieser Bereiche zu erlangen versucht, aber die ganzheitliche Betrachtungsweise und die Zusammenhänge dieser Bereiche untereinander außer acht lässt.

Der Mensch befindet sich heute offensichtlich nicht in Frieden mit der Schöpfung, nicht in Frieden mit der Natur, nicht in Frieden mit der Umwelt. Woher kommt das? Es hängt damit zusammen, dass unter den Menschen selbst kein Frieden herrscht. Statt einer Denk- und Handlungsweise, ja einer Lebensweise bei der das einander Beistehen und Behilflichsein das zentrale Element wäre, trennt der Konkurrenzgedanke in seinen vielfältigen Formen die Menschen voneinander, isoliert den einen vom anderen und schafft damit alle mögliche Unzufriedenheit, Frustration und Friedlosigkeit. Individualismus wird damit, statt gebändigt, nur noch weiter gefördert. Zwischen den Menschen steht statt Übereinstimmung und Harmonie Unfrieden, Neid, Eifersucht und der Wunsch den anderen zu übervorteilen. Der Raubbau, der an der Natur betrieben wird, hat seine Ursache darin, dass jeder den anderen übertreffen will und mancher den anderen sogar vernichten möchte. Es ist ein Kampf zwischen den einzelnen Menschen. Ein primitives Beispiel ist das neue Auto des Nachbarn. Und es ist ein Kampf der Systeme. Als die Sowjets in den Weltraum vorgedrungen waren, mussten es ihnen die Amerikaner gleichtun, und bald darauf auch möglichst alle anderen, was dazu führte, dass heute bereits der Weltraum, das heißt nicht nur die Umwelt auf unserer Erde, sondern sogar die Umwelt um unsere Erde herum übersät ist mit dem Abfall und Schrott der Raumfahrt bis hin zu nuklearen Antriebsaggregaten, die dann und wann vom Himmel fallen.

Dies geht so im kleinen wie im großen. Der Unfrieden zwischen den Menschen führt zum Unfrieden in der Natur, in Gottes Schöpfung. Dieser Unfrieden zwischen den Menschen, der den Unfrieden in die Schöpfung Gottes erst hineinträgt, hat seine Wurzeln im inneren Unfrieden des Menschen selbst. Er kommt daher, dass viele Menschen heute keinen inneren Frieden mehr kennen. Sie sind mit sich selbst uneins, im Streit innerlich unzufrieden, und das wird nach außen getragen, weil kein Mensch auf Dauer mit einem inneren Konflikt leben kann. Im Prinzip ist der außenpolitische Konflikt, der zwischen zwei Völkern vom Zaun gebrochen wird, wenn es die innenpolitische Instabilität erforderlich macht, nichts anderes als der Streit mit dem Mitmenschen, der die Wurzel in der seelischen Not und Bedrängnis hat, auch wenn sein Anlass das vielleicht zuerst gar nicht erkennen lässt. Der einzelne Mensch tarnt sich oft viel besser, als das ein Staat und seine politische Führung vermag. Die Völker führen Kriege, die einzelnen Menschen streiten mit den Ehegatten, den Eltern, den Nachbarn, Arbeitskollegen. Der innere Unfrieden führt zum äußeren Unfrieden, und der äußere Unfrieden, der Unfrieden mit den anderen Menschen, führt zum Unfrieden, zum Unheil in der Schöpfung.

Die Frage, die bleibt, lautet also, warum haben so viele Menschen heute keinen inneren Frieden? Auch hier hängt eins mit dem anderen zusammen. Es kommt daher, dass sie sich nicht im Frieden mit Gott befinden, nicht ihren Frieden mit Gott gemacht haben. Davon hängt letztlich alles ab. Gott ist der Schöpfer nicht nur des Menschen, sondern von allem, was es gibt. Er ist der Herr der Welten, heißt es im Koran. Gott, der Schöpfer, der den Menschen geschaffen hat, hat ihn auch mit allem versorgt, was er zum Leben braucht. Die ganze Schöpfung hat Gott dem Menschen anvertraut – nicht untertan gemacht, wie es in manchen Bibelübersetzungen heißt, sondern zur Nutznießung anvertraut. Und Gott hat für den Umgang mit der Schöpfung einen klaren Weg gezeigt, den Weg des Friedenmachens. Alles was in den Himmeln und auf der Erde ist, so heißt es im Koran, wirft sich nieder vor Gott, ist Gott ergeben, willentlich oder notwendigerweise. Auch für den Menschen gibt es diesen Weg des Friedens und des Friedenmachens. Im Unterschied zur übrigen Schöpfung aber soll der Mensch sich selbst dafür entscheiden im Frieden mit Gott zu leben, damit im Frieden mit sich selbst, dann dadurch im Frieden mit den übrigen Menschen und so auch im Frieden mit der Schöpfung. Für den Menschen sieht es also im Hinblick auf Gott gar nicht anders aus, als für die übrige Schöpfung. Frieden mit Gott entsteht durch Annahme des Willens Gottes, durch Hingabe an Gott, dadurch dass man so lebt, wie Gott es will. Unfrieden mit Gott, Streit mit Gott entsteht dadurch, dass der Mensch sich Gottes Willen widersetzt, dadurch, dass man so lebt wie Gott es nicht will. Dieses Leben im Willen Gottes betrifft nicht nur den einzelnen Menschen, sondern wirkt sich auf Grund der angedeuteten Zusammenhänge auch auf die Mitmenschen, die menschliche Gesellschaft, die Umwelt aus. Besonders deutlich wird dies an dem vom Koran aufgestellten Grundsatz, dass es unerlässlicher Bestandteil des Gott wohlgefälligen Lebens ist, für das Gute einzutreten und das Schlechte abzuwehren. Hier zeigt sich noch einmal der Bezug zwischen dem Islam als der Anforderung und dem Muslimsein als der Bemühung um die Erfüllung. Was gut und schlecht ist, hat Gott dem Menschen in Seiner Offenbarung mitgeteilt, abschließend im Koran, und das von Gott als gute gegebene und als schlecht gegebene jeweils als solches anzunehmen und anzuerkennen ist die eine Seite des Muslimseins. Die andere Seite besteht darin, sich nach besten Kräften dafür einzusetzen, dass das Gute verwirklicht wird und das Schlechte abgewehrt wird. Wie das Wort Muslim sagt, handelt es sich bei einem solchen Menschen um jemanden, der Frieden macht, also sich dafür einsetzt und aktiv handelt.

Das Prinzip des Guten gewähren und des Schlechten wehren verträgt sich nicht mit der irrigen Vorstellung von blindem Schicksalsglauben, der dem Muslim nachgesagt wird. Es ist richtig, dass der Muslim Gottes Willen annimmt, anerkennt und sich Gott fügt. Das alles gehört zum Wesen des Friedenmachens mit Gott. Aber ebenso gehört dazu, dass er der konkreten Anforderung, das Gute zu verwirklichen und das Schlechte zu bekämpfen, Folge leistet, und das geschieht nicht durch Tatenlosigkeit, sondern durch die andauernde Bemühung der durch den Islam gestellten Anforderung gerecht zu werden und zwar gerecht zu werden mit Gottes Hilfe, nicht etwa aus sich selbst heraus. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs zwischen Ergebung in Gottes Willen und tätigem Einsatz zur Verwirklichung der Anforderung hat der Prophet Muhammed einmal mit den folgenden Worten zum Ausdruck gebracht, als er gefragt wurde, was denn nun passender sei, das Kamel anzubinden, oder es frei laufen zu lassen im Vertrauen auf Gott. Der Prophet sagte: „Zuerst binde dein Kamel an, dann vertraue auf Gott.“

Aus all dem ergibt sich, dass der Muslim, wenn er sich bemüht, den Islam zu verwirklichen, dies in allen Bereichen des Lebens und des Daseins zu tun hat. Die Anforderung des Islam gilt für ihn als Einzelwesen, aber auch für die Gesellschaft, in der er lebt. Er kann nicht im eigenen Leben zur Hingabe an Gott und Anerkennung seines Willens finden, wenn er nicht zugleich danach fragt, inwiefern im gesellschaftlichen Bereich die Dinge dem Willen Gottes entsprechen. Deshalb schließt die islamische Lebensweise sogar Fragen des Rechts, selbst des Strafrechts mit ein, genauso wie Fragen der Wirtschaftsweise, des familiären Zusammenlebens, und alles andere, was die Menschen angeht und beschränkt sich nicht bloß auf die Formen des Gottesdienstes, des Gebets. Jede Gott wohlgefällige Handlung wird nach diesem ganzheitlichen Verständnis zu einer Form des Gottesdienstes, und jeder Ungehorsam Gott gegenüber wird so zu einem Anzeichen des Unglaubens, des Schirks, der Beigesellung, des Götzendienstes. Götzen sind heute nicht nur Figuren aus Holz oder Stein, sondern alles was dem Menschen anstelle Gottes oder neben Gott Gehorsam, Gefolgschaft, Hingabe und Ergebung abverlangt und dem der Mensch dies entgegenbringt. Frieden machen aber lässt sich nur mit einem, dem Einen, Einzigen wahren Gott, von dem es im Koran heißt: „Es gibt keinen Gott außer Ihm!“

Ob die Herleitung des Wortes Religion vom lateinischen „religer“ unstrittig ist oder nicht sei dahingestellt. In der Vorstellung jedenfalls, dass Religion etwas ist, was den Menschen an Gott bindet, besteht zumindest bei den drei Weltreligionen mit abrahamitischem Erbe, also dem Judentum, dem Christentum und dem Islam keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten. Das einigermaßen entsprechende Äquivalent im Arabischen ist das Wort „Dîn“. Dîn, das aber nicht bloß Religion im landläufigen Sinn als eine Sammlung von Glaubenssätzen und Gottesdienstpraktiken umfasst, sondern einen ganzen Lebensweg, eine ganze Lebensweise meint. Die Wurzel „dâna,“ von der „Dîn“ abstammt, bedeutet eigentlich: gehorsam sein oder gehorsam werden. Von daher auch: jemandem folgen, untergeben sein, jemandem dienen. Im Koran findet man dieses Wort zum Beispiel im folgendem Zusammenhang: „Und wer ist besser an Religion,“ also wer ist besser an Dîn, an Religion – „als wer sich Gott ergibt.“ (4:125) Oder: „Die Religion“ also das Wort Dîn steht hier im arabischen Text – „bei Allah ist der Islam.“ (3:19)

Eine zweite Bedeutung des Wortes „Dîn“ ist Schuld. Schuld! Und es ließe sich deshalb auch sagen, dass mit Religion im islamischen Sinn all das gemeint ist, was der Mensch Gott schuldig ist, und das ist ja im wesentlichen: Folgsamkeit, Gehorsam, sich Gott ergeben und Ihm dienen.

Was schließlich das Wort Politik angeht, kommt es vom griechischen Wort „Polis“: Stadt, Staat, Burg, Gemeinschaft. Und mit Politik wird im allgemeinen das auf den Staat und die Gemeinschaft bezogene Handeln bezeichnet, wobei sich statt der schon erwähnten „aristotelischen“ Zielsetzung – der Erlangung des Gemeinwohls oft auch die „macchiaveliische“ – der Erlangung der Macht – als solche verselbstständigend nach vorne drängt und dominiert. Wesentlich für unsere Diskussion ist allerdings zunächst nur die Erkenntnis, dass Politik stets zweckgerichtet bestimmte Ziele verfolgt, und dass diese Ziele in der Regel nicht alleine aus der Politik selbst, sondern aus ganz anderen Bereichen stammen; unter anderem auch aus der Religion. Das arabische Wort für Politik „Siyasa“ kommt im Koran interessanterweise gar nicht vor. Es entstammt der Wurzel „sâsa“ – beherrschen, regieren, führen, leiten, lenken, verwalten, regeln, ordnen – und hat seltsamerweise mit „sawissa“ noch die Bedeutung: von Würmern zerfressen werden, faulen. Fast so, als ob da zwischen Politik und einer faulen Angelegenheit ein Zusammenhang bestünde. Das eigentliche Wort „sâsa“ bedeutet ursprünglich, die Tiere, zum Beispiel die Kamele, zu beaufsichtigen und zu trainieren, abzurichten, und sicher kommt von daher auch dann die Bedeutung: den Stamm regieren, lenken, ihm voranstehen.

Die Konzepte, die der politischen abendländischen Herkunft in etwa entsprechen würden, ruhen im Koran und damit im Islam aber auf anderen Grundlagen und sollen hier nun kurz dargestellt werden. Der erste Begriff, auf den ich eingehen wollte in diesen Grundzügen einer politischen Theorie, ist der Begriff der „Umma.“ Für die Gemeinschaft – also die Polis – verwendet der Koran den Begriff „Umma,“ – übrigens hergeleitet vom Begriff „Umm,“ das heisst die Mutter, – für die Gemeinschaft, die Umma der Muslime, das heißt der Frieden machenden Menschen umreißt der Koran zugleich das anzustrebende Ziel und die anzuwendenden Methoden: „Ihr seid die beste Umma, die beste Gemeinschaft, von den Menschen hervorgebracht, ihr gebietet das Rechte, ihr wehrt dem Schlechten und ihr glaubt an Allah.“ (3:110) Mit anderen Worten, diejenigen, die an Gott glauben, dem Rechten, das heißt dem was Gut ist, zum Sieg verhelfen und das Schlechte, das Böse abwehren und es nicht zum Zug kommen lassen, diejenigen verwirklichen das gesetzte Ziel, nämlich, die beste Gemeinschaft, die Gemeinschaft des Guten zu werden. „Amr bi-l Ma’rûf wa Nahyi ‚an-il Munkar,“ das heisst das Rechte gebieten, dem Schlechten wehren ist damit Methode und Zweck. Wenige Verse vor dieser Passage im Koran in der dritten Sure steht als Auftrag an die Muslime: „Und aus euch soll eine Gemeinschaft, (eine Umma) entstehen, die zum Guten einlädt und das Rechte gebietet und dem Schlechten wehrt. Diese sind es die Erfolg haben.“ (3:104)

Wenn wir an dieser Stelle zum ersten Mal kurz zusammenfassen, lässt sich also sagen: Der Koran stellt den Muslimen damit zunächst folgende die Angelegenheiten der Umma – das heißt der Gemeinschaft, der Polis – betreffende und somit politische Aufgaben.

1. Muslime zu sein, das heißt Frieden bringend zu wirken, wie zum Beispiel im folgenden Koranvers: „Ihr Gläubigen, fürchtet Allah mit der rechten Gottesfurcht und sterbt nicht anders denn als Muslime.“

2. Sich als eine Umma – eine Gemeinschaft – zu konstituieren, und natürlich als Umma, als Gemeinschaft der Muslime, wie schon im Gebet von Ibrahim und Ismail zum Ausdruck gebracht wird, als sie die Ka’ba in Mekka erbaut hatten: „Unser Herr mach uns zu Muslimen Dir gegenüber und aus unserer Nachkommenschaft eine muslimische Umma.“

3. Drei Hauptzwecke zu befolgen: das Rechte gebieten, dem Schlechten wehren, an Gott zu glauben (3:110).

Dies alles ist im Koran expressis verbis anzutreffen, und eine Loslösung zwischen religiösen Angelegenheiten, das heißt Angelegenheiten von Dîn – Religion wie wir es definiert haben – und politischen Angelegenheiten, das heißt Angelegenheiten der Umma, ist für den Muslim deshalb nicht vorstellbar. Das Prinzip des Säkularismus, das heißt einer Ablösung des Weltlichen, Profanen, oder des Laizismus, das heißt das Bestreben der Religion, den Zugang zur Politik zu verwehren, ist deshalb mit den gerade hier vorgestellten Grundaussagen des Korans nicht vereinbar, sondern steht im krassen Widerspruch dazu.

Ein wesentliches Element in der Politik ist die Frage der Entscheidungsfindung, und weil nach islamischer Sicht die Angelegenheiten von Religion und Politik also nicht voneinander zu trennen sind, sollte es nicht verwundern, im Koran auch hierzu einen Hinweis zu finden. Tatsächlich legt der Koran den Muslimen ein ganz bestimmtes Verfahren zur politischen Entscheidungsfindung auf, nämlich das Prinzip der gegenseitigen, beziehungsweise gemeinsamen Beratung (Schura). „Und ihre Angelegenheiten sind Beratung untereinander“ oder „sind in Beratung untereinander“ (42:38).

Daraus, dass der Koran dieses Prinzip der Beratung in diesem Vers der Beziehung zu Gott, der Einrichtung des Gebets und dem Teilen des Vermögens mit den Bedürftigen zum Charakteristikum der Gott wohlgefälligen Menschen erhebt, lässt sich erklären, dass bei den Muslimen die verschiedensten Formen von beratenden Institutionen und Räten auftreten – von der traditionellen afghanischen Dschirga, der Ratsversammlung der Stammesoberhäupter, bis hin zum gewählten Parlament, wie es zum Beispiel die iranische Verfassung vorsieht. Fragt man nun noch nach der ausführenden, im abendländischen Sprachgebrauch also exekutiven Gewalt so ist als Entsprechung der „Amir,“ eingedeutscht der Emir zu nennen. Im Koran heißt es: „Ihr Gläubigen, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und den mit der Sache Beauftragten unter euch. Und wenn ihr in etwas uneins seid, bringt es zurück zu Allah und dem Gesandten, wenn ihr an Allah und den Jüngsten Tag glaubt. Das ist gut und am besten zum Beschluss.“ (4:59)

Am Rande sei erwähnt, dass der Islam die judikative Gewalt insofern noch unabhängiger ansetzt als in der abendländischen Demokratie, als die unabhängige Rechtssprechung ihre grundsätzlichen Rechtsnormen nicht einer legislativen Gewalt verdankt, sondern sich stets auf die Scharia, das von Gott gegebene Gesetz bezieht, dessen Grundzüge seit Abschluss der Offenbarung des Korans unveränderlich feststehen.

Wenn ich an dieser Stelle zum zweiten Mal zusammenfasse, lässt sich also sagen über das Verhältnis zwischen Religion und Politik:

1. Der Muslim hat die von Gott gegebene Pflicht Frieden bringend zu wirken.

2. Sich zu diesem Zweck in einer Gemeinschaft, in einer Umma, zu konstituieren.

3. Zu diesem Zweck das Rechte zu gebieten, das Schlechte abzuwehren auf der Grundlage des Glaubens an Gott, das heißt nach den von Gott gegebenen Normen für das Gute und das Schlechte.

4. Dabei das Prinzip der Beratung – Schura – zu beachten und anzuwenden.

5. Den mit der Sache, das heißt den jeweiligen Angelegenheiten, Beauftragten Folge zu leisten, was natürlich auch das Beauftragen selbst voraussetzt.

Der letzte Begriff, den ich hier noch kurz vorstellen möchte, ist der Begriff der Souveränität, der Macht, „Al-Mulk“ im Arabischen, im Koran. Dies ist der in der Politik wohl zentrale Begriff, denn bei allem politischen Handeln geht es ja um den Gebrauch, die Anwendung der Macht. Der Koran spricht davon zum Beispiel an folgender Stelle: „Allahs ist die Macht der Himmel und der Erde und was in ihnen ist, und Er ist zu allem imstande, Er vermag alles.“ (5:120) Mit anderen Worten: Allah, Gott, der Eine Gott ist der oberste Souverän, nicht wie es in der demokratischen Denkart heißt, das Volk ist der oberste Souverän. Der Koran begründet übrigens auch, weshalb Allah es ist, der als der eigentliche Herrscher und Gesetzgeber anzusehen ist, und nichts und niemand sonst außer Ihm, auch nicht das Volk oder seine Vertreter. In den Versen 1-3 der Sure 67 heißt es: „Gesegnet ist Er, in dessen Hand die Herrschaft ist, und Er ist zu allem imstande. Er, der den Tod und das Leben geschaffen hat, damit Er prüft, wer von euch am besten handelt. Er ist der Mächtige, der Vergebende, der die sieben Himmel geschaffen hat …“ und so weiter und so fort. Die Betonung muss hier sein: „Er, der den Tod und das Leben geschaffen hat, damit Er prüft, wer von euch am besten handelt.“ Auch wird ausdrücklich davor gewarnt, sich statt des wahren Souveräns andere als Herren anzunehmen. So zum Beispiel in der folgenden Abmachung, die der Koran den Leuten der Schrift, den Christen vorgeschlagen hat. Sie sollen sich mit den Muslimen auf folgende Sache einigen: „Sag! Ihr Leute der Schrift, kommt zu einem Wort des Ausgleichs zwischen uns und euch, dass wir nur Allah allein dienen und Ihm nichts zur Seite stellen und nicht manche von uns andere als Herren neben Allah annehmen.“ (3:64)

Die menschliche Gesetzgebung, bei allem Bemühen um Zweckmäßigkeit und Angemessenheit, ist mit der Gesetzgebung des wirklichen Souveräns nicht zu vergleichen. Menschliche Gesetzgebung ist immer situationsbedingt, nicht frei von den jeweiligen Bedingungen und Umständen unter denen sie entsteht. Gottes Gesetz aber ist vollkommen und universal. Im Koran heißt es: „Und das Wort deines Herrn ist abgeschlossen in Wahrheit und Gerechtigkeit, kein Verändern Seines Wortes. Und er ist der Hörende, der Wissende. Und wenn du den meisten derer auf der Erde folgst, sie lassen dich abirren vom Weg Allahs, sie folgen nur Vermutungen und sie mutmaßen nur.“ (6:115-116) Die Betonung hier ist: „Wenn du den meisten derer auf der Erde folgst, so lassen sie dich abirren vom Wege Allahs, sie folgen nur Vermutungen, sie mutmaßen nur.“ Aus diesen Worten kann man also sogar eine ganz deutliche Absage an ein demokratisches Grundprinzip entnehmen: Das absolute Recht der Mehrheit. Der Koran gesteht niemandem, auch nicht der Mehrheit der Menschen das Recht zu, das Wort Allahs zu ändern, die Rahmengesetzgebung den Vorstellungen des Menschen, und sei es die Mehrheit der Menschen, anzupassen.

Ich möchte hier abschließen, zum Schluss kommen. Ich hätte noch einen kurzen Text zu verlesen, auf den ich an dieser Stelle, weil die Zeit fortschreitet, jetzt verzichte, den möchte ich nur noch erwähnt haben, in Erinnerung gerufen haben und vielleicht, wenn Interesse daran besteht, kann ich in der Diskussion darauf noch etwas eingehen. Das ist die so genannte „Verfassung von Medina,“ ein sehr lesenswerter und bedenkenswerter Text, den der Prophet Muhammad – Friede sie auf ihm – als er nach Medina gekommen ist und dort in einer multikulturellen, multireligiösen Gesellschaft mit anderen Menschen, mit Menschen anderem Glaubens, anderer Kulturen zusammenlebte, er ihnen eine solche grundlegende Verfassung gegeben hat, in der auch viele Dinge niedergeschrieben und definiert sind, die wir heute als die wichtigen Menschenrechte bezeichnen. Ich möchte aber wie gesagt diesen Text jetzt hier nicht verlesen, sondern nur daran erinnern, dass es ihn gibt, dass der Prophet ihn schon damals als eine Verfassung erlassen hat und das würde uns vor Augen führen, wie nun in der damaligen Zeit, in der Zeit des Propheten Muhammad, diese Grundlagen von denen ich gesprochen habe: Islam, das Friedenmachen; Politik, die Angelegenheiten der Gemeinschaft verfolgen, der Ziele, die uns von Gott gegeben sind, Anerkennung des Willen Gottes, wie das in der damaligen Zeit vom Propheten Muhammad und seinen Mitmenschen umgesetzt wurde. Das ließe sich also an diesem Text sehr gut erkennen, aber es interessiert uns wahrscheinlich heute mehr die aktuelle Umsetzung, wie wird das in der heutigen Zeit verstanden, wie wird es angewandt, welche Schwierigkeiten stellen sich dabei in der Moderne, in unseren Tagen? Wie ist die Situation der Muslime heute, bestimmt von diesen Grundsätzen, von anderen Faktore? Zu all diesen Fragen wird der Bruder Ahmad Huber nun Stellung nehmen und ich danke für die Geduld und die Aufmerksamkeit.

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von Ahmad von Denffer, München

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